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Die fünf K der AA. Zu Besuch bei den Anonymen Alkoholikern

Die fünf K der AA. Zu Besuch bei den Anonymen Alkoholikern

Albert Einstein wird dieses Zitat zugeschrieben, und damit hat er (beinahe) alles gesagt, was es zum Alkoholtrinken und seinen Auswirkungen zu sagen gibt. Kaum jemand weiß das besser als die Mitglieder des wöchentlichen Treffens Anonymer Alkoholiker (AA). Ein Besuch bei den AA der Passauer Sektion.

Sie heißen Norbert, Kurti, Klaus und Albert – wie man eben so heißt im Deutschland des Jahres 2015 und schon ein wenig vom Leben genossen hat. Die vier, ihre Namen tragen natürlich nur Stellvertreterfunktion, treffen sich seit Jahren einmal in der Woche, weil sie zwei Dinge eint: ein hinter ihnen liegendes Leben im Suff, erstens, und zweitens der Wunsch, nie wieder dorthin zu kommen, in den Suff. Norbert, Kurti, Klaus und Albert sind Alkoholiker. „Trockene“ Alkoholiker, um genau zu sein, sie trinken keinen Alkohol mehr. Damit sie trocken bleiben, kommen sie jeden Dienstag, 19 Uhr, im Steinweg 5 in Passaus Altstadt zum Meeting der Anonymen Alkoholiker zusammen.

Die zwei ersten K: Kapieren und Kapitulieren

„Anonyme Alkoholiker“, so steht es in der Präambel der AA-Selbsthilfegruppen, „sind eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Alkoholismus zu verhelfen.“

Erfahrung, Kraft, Hoffnung, Genesung – schöne Wörter, denen immer eine Einsicht vorausgeht: Jeder einzelne hat erkannt, dass der Alkohol viel stärker ist als man selbst. Jeder einzelne hat kapiert, dass nicht er das Trinken im Griff hat, sondern der Alkohol ihn in Geiselhaft hält (oder sie). Jeder von ihnen hat es kapiert und in der Folge kapituliert. Keiner bildet sich mehr ein, das Trinken kontrollieren zu können.

„Alkoholiker sind so etwas wie die Leprakranken früherer Zeiten, die Siechen: Mit uns will niemand in Berührung kommen“, sagt Jan, einer der Anwesenden. „Wer von Alkoholikern spricht, denkt an Parkbank, Tankstellensaufen, Gestank und Inkontinenz.“ Lieber mal einem Schwulen die Hand schütteln, als mit einem Alkoholiker an einem Tisch sitzen. Das erste, die Homosexualität, soll ja nicht ansteckend sein; beim Alkoholiker, so der Eindruck, weiß man das nicht so ganz genau.

Saufen: nicht nur eine Domäne für Männer

Sie heißen Christine, Marianne, Eleonore und Rita – wie man eben so heißt, wenn man schon Kinder durch Krippe, Kindergarten, Klassenzimmer gelotst hat, wenn man als Frau nicht sonderlich viel zu melden hatte, vielleicht aber gerade deshalb viel zu sagen hätte. Es ist kurz vor 19 Uhr, die vier Alkoholikerinnen betreten über vier, fünf krummgelaufene Steinstufen das düstere steinerne Barockgebäude. Sie gehen „zum Stammtisch“, wie sie mit feiner Ironie sagen. Zum Stammtisch der Anonymen Alkoholiker.

In der Gruppe

Dienstag für Dienstag kommen hier zehn, zwölf Menschen zusammen und tun etwas ziemlich Gewöhnliches: Sie sprechen über sich, sie sprechen von sich. Ungewöhnlich indes: Wer an der Reihe ist, hat das Wort; die anderen hören zu. Niemand unterbricht – das ist eine der wenigen Regeln beim Treffen der Anonymen Alkoholiker. Und sie ist eine Wohltat, diese Regel. Was will man denn aber auch sagen, wenn Kurti davon berichtet, wie er sich eine Woche lang den Schnaps hat reinlaufen lassen quasi zum Abschied, bevor es zur Entgiftung ging nach Mainkofen ins Bezirkskrankenhaus? Was sollte, was könnte man Sinnvolles ergänzen, wenn Marianne von ihren Trunkenheitsfahrten berichtet zwischen Heim und Supermarkt und Schule und Kindergarten? Ihr schienen die Touren damals kein bisschen bemerkenswert – heute wird ihr schlecht, wenn sie sich daran erinnert und sich vor Augen hält, was sie ihren Kindern vorgelebt und ums Haar angetan hat.

Nein, da gibt es keinen Grund, wohlmeinende, vermeintlich kluge Worte an sie zu richten oder besorgte Fragen. Vorwürfe schon mal gar nicht. Seit sie hell sind, Kurti, Marianne und die anderen, seit sie also aufgehört haben zu trinken, müssen sie im Licht dieser Erinnerungen selbst damit klarkommen und das Schreckliche aus den Tagen des Alkohols in ihr neues Leben integrieren.

Die anderen K: Klapse, Knast und Kiste

Und radikal neu ist es, das Leben so ganz ohne Alkohol. Ein ungeheures Geschenk, das sich die Alkoholiker selbst gemacht haben, als sie aufhörten. Vielleicht hat der Autor Jürgen Heckel seinem Buch auch deshalb einen doppelbödigen Titel gegeben. „Sich das Leben nehmen“ nennt er die Aufarbeitung der eigenen Alkoholikerkarriere.

Es nicht wegwerfen, sondern es sich nehmen, das Leben – am Passauer Stammtisch der Anonymen Alkoholiker heißt das dann so: kapieren oder krepieren. Und mit dem Instinkt der Betroffenen verdichtet der eine oder andere Stammtischbruder manchmal die Sauffolgen auf ein drittes, viertes und fünftes K: Klapse, Knast und Kiste. Wer säuft, steht immer vor einer dieser Alternativen: Psychiatrie – Gefängnis – Grab. Oder vor allen dreien. Jede ein Abgrund.

Kein erstes Glas – nur für heute

Woche für Woche also eineinhalb Stunden Stammtisch hinter Wänden, die in ihrem 60 Zentimeter tiefen Mauerwerk viele Geheimnisse aufgesogen haben während der vergangenen Jahrhunderte. Auch die Berichte, Beichten und Geschichten der Anwesenden bleiben am Tisch und im Raum; was hier erzählt wird, erfährt niemand sonst, und Punkt halb neun ist Schluss, darauf achtet Norbert. Der knapp 50-Jährige leitet das Meeting mit leiser Stimme und leichter Hand – Alkoholiker lassen sich zu nichts zwingen. Nicht mehr. Der Zwang, dem sie ausgesetzt waren während der aktiven Phase der Sucht, reicht für mindestens ein Leben. Vielleicht deshalb sagt auch keiner der Ex-Säufer, er dürfe nicht mehr trinken. Dürfen dürfen sie schon, aber sie wollen nicht mehr, und sei der Saufdruck noch so groß.

Wer jetzt Verzweiflung raushören mag, wer gar vermutet, dem Nicht-Wollen echoe ein Aber-nicht-Können hinterher, der liegt falsch. Eine Gelassenheit, eine selbstverständliche Haltung belebt jeden aus der Gruppe. Wie überhaupt die Treffen sehr lebendig sind und und durchaus auch gelacht wird – Saufen verbindet eben auch dann, wenn es hinter einem liegt; es schafft Vertrauen, auch wenn es Jahre voneinander getrennt und ganze Landstriche voneinander entfernt ausgeübt wurde. Alkoholiker kennen sich, sie er-kennen sich, und sie sind allesamt lebensweise genug, um ohne Dünkel den Geschichten der anderen zu lauschen. Es gibt vermutlich nur wenige Orte, wo so wenig Wissen gefordert ist oder „Intelligenz“ und zugleich so viel bewirkt wird wie am Stammtisch der AA. Wo aber durchaus auch Anwälte sitzen oder Ärztinnen, Menschen also, denen man gemeinhin eine ordentliche Portion Intelligenz unterstellt. Alkohol macht alle gleich, ob man nun geistig beschränkt ist, clever oder gar klug.

Lebensklug sind sie allemal, die Trockenen, allesamt Spezialisten in ihrem Fachbereich, dem Saufen. Sie wissen, sie stehen nur einen Handgriff entfernt vom alten Leben. Das erste Glas – die kritische Distanz!

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